TREUE, SELBSTTREUE UND FREIHEIT
IN BEZIEHUNGEN

Mit der Liebe eng verbunden sind die Phänomene Freiheit und Treue.
Viele Menschen halten die Bindung an einen Partner für unvereinbar mit Freiheit. Sie haben erlebt oder glauben, dass Partnerschaft gleichbedeutend ist mit dem Verlust ihrer Freiheit.
Wir sind daher der Frage nachgegangen, ob Liebe auch ein „Mehr“ an Möglichkeiten bringen kann, also mehr Freiheit nach sich ziehen kann.
„Treue“ ist ein weiteres zentrales Thema in Beziehungsdiskussionen, weshalb wir die Begriffe Treue, Untreue und Selbsttreue in der Partnerschaft näher erläutern wollen.

Treue und Liebe
Formale Treue als religiöser oder lebloser Moralbegriff entbehrt der Selbstverständlichkeit und auch der Freiwilligkeit. Wo aber Treue ein Kriterium der Liebe ist, stellt sich nicht mehr die misstrauische Frage (die per se schon einem Vertrauensbruch gleichkommt): “Bist du mir auch treu?“, denn der Liebende will beim Geliebten sein und sonst nirgends.
Es ist die Gewissheit, sich auf den anderen verlassen zu können: Treue impliziert Vertrauen in den anderen und in die Dauerhaftigkeit der Beziehung. Man muss nicht beim geringsten Problem Angst vorm Verlassen- oder Fallengelassenwerden haben; trotz aller Fehler hält ein gemeinsames Band zusammen.
Es ist das Vertrauen, dass
– der andere versucht, mich zu verstehen,
– er sich mir gegenüber nicht beliebig, sondern verbindlich verhält,
– ich so sein kann wie ich bin,
– der andere mir gut gesinnt ist und 
– ich mich darauf verlassen kann, dass der andere zur Beziehung steht.

Das Werden ist untreu
Leben heißt Werden, ist ständige Entwicklung und Wandlung. Das Werden an sich ist untreu und der Mensch würde erstarren, würde er sich nicht der Zeit und seinen Anlagen gemäß verändern. Hierin liegt das ewige Dilemma und die Paradoxie menschlichen Daseins: Wie ist es möglich, dem menschlichen Grundbedürfnis nach Treue (Heimat und Geborgenheit) und gleichzeitig dem Grundbedürfnis nach Veränderung (Abwechslung und Wachstum) gerecht zu werden?
Marina Gambaroff schreibt in ihrem Buch „Utopie der Treue: „Weder Treue noch Untreue als Prinzip lassen sich verwirklichen, obwohl sich beides leben lässt; allerdings nur mit ungeheurem Verleumdungsaufwand. Wer von sich behauptet, er oder sie sei vollkommen treu in Tat und Phantasie, ist einem Selbstbetrug zum Opfer gefallen. Wer von sich behauptet, mit der Untreue seines oder ihres Partners oder der eigenen ohne größere Schwierigkeiten umgehen zu können, ebenfalls.“

Entscheidung zur Treue
Es geht nicht darum, einer beliebigen Sache gegenüber treu zu sein, das wäre Fanatismus, Starrköpfigkeit, Routine oder nostalgisches Festhalten an Vergangenem. Es geht um die Entscheidung zur Treue, jener freiwilligen Treue, die immer neu auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden muss; um die treue Haltung, die sich ihrer Verbindlichkeit einem anderen Menschen oder einer Sache gegenüber stets erinnert und welche – im Gegensatz zur untreuen Haltung – Auseinandersetzung mit der vorliegenden Beziehung fordert. Sie ist radikal, kompromisslos und ganzheitlich.
Der untreue Mensch nimmt sich hier dies, dort das, biegt sich den Begriff für sich zurecht und interpretiert ihn nach seinem Gutdünken. Er verleugnet und verrät das, woran er sich erinnert, dann vergisst er, was er verraten hat. Andrè Comte-Sponville schreibt: „Untreue Liebe ist nicht die freie Liebe: Es ist die vergessliche Liebe, die abtrünnige Liebe, die Liebe, die das verachtet, was sie geliebt hat und sich infolgedessen selbst verachtet. Ist das aber noch Liebe?“ Und weiter: „Treue ist der Kampf gegen das Verleugnen und Vergessen.“
Man kann durchaus auch früheren Beziehungen und Ideen gegenüber treu bleiben, indem man sie für die damalige Zeit als wertvoll und richtig erachtet.
Es gibt eine nachträgliche Wertschätzung, die gut sein lässt, was war, die nicht abwertet und verleugnet, was jetzt keine Gültigkeit mehr hat.
Es ist die Treue der gelebten Vergangenheit gegenüber, welche die eigene Biografie nicht zensuriert, sondern ganz lässt, und gerade dadurch ihre Unverwechselbarkeit bestätigt.

Habe ich Freiraum in der Beziehung, Rückzugsmöglichkeit, Zeit für mich alleine, oder fühle ich mich eingeengt?

Selbsttreue
Sich selbst treu zu bleiben kann bedeuten, eine Überzeugung zu revidieren, eine Meinung – durch triftige Gründe bestärkt – zu ändern, es verlangt Elastizität und Lernfähigkeit. Nicht eine Lernfähigkeit zur Untreue, sondern eine Fähigkeit, selbstkritisch sich auch zu revidieren, umzustellen, Abschied zu nehmen, Beziehungen aufzugeben, Einsamkeit und Unsicherheit auf sich zu nehmen, wenn eine innere oder äußere Bindung aufzulösen ist.

In Shakespeare`s Hamlet sagt Polonius zu seinem Sohn Laertes als Ermahnung für eine Lebensgestaltung: „Dies über alles: Sei dir selber treu und du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen!“

Sich selbst gegenüber treu sein, um auch anderen Menschen gegenüber verlässlich zu sein, bedeutet:
„Ja“ sagen und auch „Ja“ meinen.
Den Partner zu heiraten, den man liebt und nicht den, wo man gut versorgt ist.
Den Beruf zu wählen, der den eigenen Fähigkeiten und Vorlieben entspricht.
Das zu tun, was Freude macht, und nicht nur das, was vernünftig ist.

Ein Handeln gegen die eigene Überzeugung, gegen die innere Stimme, führt zu Verbiegung, Verleugnung, Verdrängung und Selbstentfremdung.
Der bekannte Sozialpsychologe Horst Eberhard Richter nennt dies die „Enteignung des Gewissens“:
Ursprünglich verfügt jedes Kind über einen inneren Maßstab, mit dem es fühlt, was gerecht und ungerecht, was gut und schlecht ist. Wenn nun Eltern ihm immer wieder vorschreiben, was es für richtig und gut halten soll, wird dieser innere Maßstab korrumpiert.
Das kann sich im Heranwachsenden in einer Art falscher Autoritätsergebenheit fortsetzen, indem die eigene Überzeugung laufend verleugnet werden muss.
Hörigkeit, Gehorsam, Anpassung und Konformismus sind die Konsequenzen, während Eigenständigkeit und Eigenverantwortung aufgegeben werden.

Der selbsttreue Mensch hingegen orientiert sich an seinem Gewissen und nicht an den Erwartungen der anderen. Er handelt authentisch (glaubwürdig): mit sich selbst identisch, situativ im Einklang mit dem eigenen Tun.

Während wir aus unseren Rollen oder Selbstbildern heraus „statisch“ auf alle Situationen des Lebens reagieren, z.B. stets hilfsbereit und freundlich, immer mütterlich oder in jeder Lebenslage distanziert, antworten wir als Person entsprechend der jeweiligen Situation und verantworten damit unsere Handlungen. Authentizität verleiht Konturen und erst dadurch gewinnt eine Person an Persönlichkeit, welche wiederum dynamisch und ein Leben lang im Werden ist. Viktor Frankl meint dazu: „Ich handle nicht nur gemäß dem, was ich bin, sondern ich werde auch, wie ich handle“.
Persönlichkeit zeigt sich immer aufs Neue an den individuellen Werten, von denen sich ein Mensch angezogen fühlt und die jeder auf seine ureigenste Art und Weise verwirklicht.

Für unser Beziehungsleben ist die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit nicht unwesentlich, denn erst dadurch werden wir zu einem spürbaren „Gegenüber“ für andere Menschen. Je wahrhaftiger ein Mensch er selbst ist, desto besser kann er in Auseinandersetzung mit der Welt sein, Nähe und Distanz regulieren, und desto weniger läuft er Gefahr, mit seinem Partner zu verschmelzen oder sich zu entfremden.